Die historische Entstehung des Ersten Motor-Omnibus der Welt
Öffentlicher Personennahverkehr ist heute nichts Besonderes mehr. Das sah vor 130 Jahren noch ganz anders aus. Gerade in den schlecht erschlossenen Regionen auf dem Land gab es - wie auch im Netpherland, beginnend am 1. August 1845 mit der von dem Lederfabrikanten Heinrich Wilhelm Hüttenhain (1812-1888) aus Niedernetphen betriebenen Karriolpost nach Siegen – nur Pferdekutschen, die dafür sorgten, dass man eine Alternative zum sonst fälligen Fußmarsch in die nächstgelegene größere Stadt hatte. Zwar war das mit Benzin betriebene Automobil schon erfunden, aber der Omnibus als – wie das lateinische Wort schon verspricht – Massenbeförderungsmittel „für alle“ steckte noch in den Kinderschuhen.
Die Stadt Siegen war schon seit dem 10. Januar 1861 mit einer Stichbahn von Betzdorf aus an das Eisenbahnnetz der Köln-(Deutz)-Gießener-Eisenbahn angeschlossen. Mit der Eröffnung der letzten Teilstrecke Altena-Siegen am 6. August 1861 war dann auch wenig später die gesamte Ruhr-Sieg-Strecke von Hagen nach Siegen fertiggestellt. Um auch das noch immer fernab von diesen neuen, zunächst privat betriebenen Eisenbahnstrecken liegende Netpherland endlich an die „große weite Welt“ anzubinden, strebte man zunächst ebenfalls eine auch für den Transport größerer Menschenmengen geeignete Eisenbahnverbindung durch das Amt Netphen an. Dem eigens hierfür in Netphen Ende der 1860er Jahre gegründeten Eisenbahnkomitee gehörten zahlreiche Honoratioren aus Wirtschaft und Kirche an. Zusammen mit dem Eisenbahnkomitee in Straßebersbach in der damals preußischen Provinz Hessen-Nassau wurde 1884 eine Denkschrift veröffentlicht. Das darin angestrebte Projekt einer Anbindung des Netpherlandes an eine als „normalspurige Secundärbahn“ von Haardt (heute ein Teil von Siegen-Weidenau) über Straßebersbach bis Dillenburg führende Eisenbahnstrecke scheiterte aber an der Ablehnung durch den preußischen Staat, der einer seit 1884 gebauten Strecke von Kreuztal über Hilchenbach nach Cölbe bei Marburg den Vorzug gab.
Zwischenlösung bis zum Bau der Eisenbahnstrecke gesucht
Nun musste, zumindest als Zwischenlösung für eine Übergangszeit bis zum Bau der ersehnten Eisenbahnstrecke, eine Alternative für die Personenbeförderung im Netpherland gefunden werden. Es gab im 19. Jahrhundert zwar bereits erste Versuche mit kommerziellen Dampf-Omnibuslinien, die sich aber aus Kostengründen nicht durchsetzen konnten. Vielversprechender erschien für den Personenverkehr auf der Straße dagegen die Entwicklung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor, wie sie z.B. von Carl Benz (1844¬1929) in Mannheim vorangetrieben wurde. Durch eine geniale Marketing-Aktion seiner Ehefrau Bertha Benz (1849-1944) war sein Erfolg als Autobauer begründet worden. Sie hatte im August 1888 mit ihren Söhnen Richard und Eugen ohne das Wissen ihres Ehemanns mit dem Modell Nr. 3, einer Weiterentwicklung des Patent-Motorwagens Nr. 1, über die 106 km lange Strecke von Mannheim nach Pforzheim und wenige Tage später auf einer kürzeren Strecke wieder zurück die erste Autofernfahrt in der noch jungen Automobilgeschichte unternommen. Tatsächlich gefahren seien damals aber nur er und sein Bruder, so Eugen Benz 1956 in einem Interview mit dem früheren Mercedes-Archiv-Chef Friedrich Schildberger.
Nach der legendären, am 22. Juli 1894 erfolgreich durchgeführten Zuverlässigkeitsfahrt Paris-Rouen über 126 km, die im Nachhinein auch als erstes Automobil-Rennen der Welt bezeichnet wurde, rückten die neuen, mit Benzin angetriebenen Motorfahrzeuge zunehmend ins Blickfeld der öffentlichen Wahrnehmung. Die Berichterstattung hierüber blieb auch im Netpherland nicht verborgen.
Carl Benz ließ in seinen Omnibus alle Erfahrungen einfließen, die er bereits mit seinen Automobilen gesammelt hatte. Technisch gesehen war der erste Motoromnibus der Welt ein umgebautes Personenwagen-Modell mit einer so genannten Landauer-Karosserie, einer Aufbauart, die damals bei Kutschen weit verbreitet war.
Sein Kutschenwagen mit einem geschlossenen sechssitzigen Aufbau, einem verglasten Oberteil mit festem Dach, bei dem sich der Fahrersitz über der Vorderachse befand, war eine Weiterentwicklung des Patent-Motorwagens Benz „Landauer“ von 1894. Wie beim Landauer üblich, saßen sich die Passagiere in zwei Reihen gegenüber. Der siebte Fahrgast saß draußen neben dem Fahrer auf dem Kutschbock. Dort konnte notfalls noch eine weitere Person sitzen. Auch im Fahrgastabteil konnten, dann aber sehr beengt, noch zwei weitere Reisende Platz nehmen. Diese Hotel-Omnibusse sollten dazu dienen, Hotelgäste vom Bahnhof abzuholen oder sie zum Zug zu bringen.
Dieses Fahrzeug hatte einen liegenden Einzylinder-5-PS-Viertaktmotor im Heck mit einem Hubraum von 2.650 cm3 und 20 km/h Höchstgeschwindigkeit. Der Antrieb erfolgte über Ketten an die Hinterräder. Der Omnibus hatte ein Leergewicht von 1.200 kg, eine Spurweite von 1,40 m und einen Achsabstand von 2,02 m. Er war 3,4 m lang, 1,8 m breit und 2,5 m hoch und verfügte über eine Heizung.
Inititative mutiger Geschäftsleute aus Netphen
Durch die Initiative von weitsichtigen und mutigen Geschäftsleuten aus Netphen nahm die Entwicklung des Omnibusses anschließend im wahrsten Sinne des Wortes Fahrt auf. Wilhelm Hüttenhain jr., Lederfabrikant und wie seine Geschäftspartner Visionär, ärgerte sich über die sehr schlechte Verkehrsverbindung zwischen dem Johannland und der Stadt Siegen. Denn die Postkutsche fuhr nur morgens in die Kreisstadt und abends wieder zurück. Deshalb entschloss man sich im November 1894, eine Benzinmotor-Omnibusverbindung zwischen Siegen, Weidenau, Dreis -Tiefenbach, Netphen und Deuz ins Leben zu rufen und gründete am 7. Dezember 1894 als Genossenschaft mbH die Netphener Omnibus-Gesellschaft, die auf Grund ihres Statuts vom 9. Januar 1895 eine Woche später beim Amtsgericht Siegen in das Genossenschaftsregister eingetragen wurde.
Der Gerbereibesitzer August Hüttenhain (1840 - 1906) aus Niedernetphen als Vorsitzender, sein Neffe Wilhelm Hüttenhain jr. (1871 - 1963) aus Obernetphen als sein Stellvertreter und der Ziegeleibesitzer Heinrich Autschbach (1862 - 1948) aus Obernetphen bildeten den Vorstand der Genossenschaft.
Der Gastwirt Heinrich Theodor Klein (1866 - 1941) aus Deuz und der Fabrikant Albert Rudolf Weiß jr. aus Hilchenbach zeichneten ebenfalls Genossenschaftsanteile.
Schon am 19. Dezember 1894 bestellten die Pioniere für 6.000 Mark bei der Firma „Benz & Cie, Rheinische Gasmotoren-Fabrik“ in Mannheim einen Omnibus vom Typ Landauer.
Start lief planmäßig um 6:25 Uhr
Mit diesem Omnibus, der am 12. März 1895 in Netphen eingetroffen war, wurde schließlich am 18. März 1895 die weltweit erste Motoromnibuslinie zwischen der Stadt Siegen und den Ortschaften Netphen und Deuz eröffnet. Um 6 Uhr morgens in Netphen losgefahren, startete der Omnibus um 6.25 Uhr fahrplanmäßig in Deuz am Gasthaus von Heinrich Theodor Klein zu seiner ersten offiziellen Linienfahrt. Vor Gastwirtschaften und Gasthäusern befanden sich auch fast alle weiteren Haltepunkte in Obernetphen (Johannes Brachthäuser und Ferdinand Autschbach), Niedernetphen Amtshaus, Dreisbach (Hermann Stöcker), Tiefenbach (Rudolf Moll), Alte Burg (Wilhelm Hoffmann), Meinhardt (Martin Patt), Weidenau (Jacob Schmidt undCarl Patt), Weidenau Bahnhof und als Endstation in Siegen am unteren Ende der Kampenstraße (H. Kreuz). Karl Otto aus Nauholz lenkte den Omnibus über die holprigen Straßen. Weitere Fahrer waren der Schreinermeister Hermann Golze aus Niedernetphen und Gustav Stötzel aus Dreis-Tiefenbach. Das Benzin wurde damals noch in der Apotheke „getankt“. Eine Stunde und 20 Minuten sollte für die Fahrgäste die 15 km lange Fahrt in dem Omnibus dauern. Talaufwärts waren dabei im Siegtal 80 Höhenmeter zu bewältigen. Viermal am Tag fuhr der Omnibus die Strecke hin und wieder zurück, bis er abends um 20.55 Uhr in Netphen sein Nachtquartier in einer Garage erreichte.