Grissenbacher Gerhard Stötzel soll geehrt werden
Bereits vor über 20 Jahren war der verstorbene Netphener Heimatforscher Ewald Hatzig im Rahmen seiner familiengeschichtlichen Recherchen darauf gestoßen, dass einem gebürtigen Grissenbacher im 19. Jahrhundert eine erstaunliche Karriere vom Metalldreher zum Zeitungsredakteur und zum Reichstagabgeordneten in Berlin gelungen war.
Gerhard-Stötzel-Platz und Gedenktafel
Auf der jüngsten Bürgerversammlung in Grissenbach informierte Wilfried Lerchstein die Anwesenden in einem kurzen Vortrag über das Leben und Wirken von Gerhard Stötzel. Gemeinsam mit Thomas Kleber regte er zum einen an, den im Rahmen der Verkehrsberuhigung der alten Ortsdurchfahrt vor über 30 Jahren geschaffenen namenlosen, rot gepflasterten Platz in Sichtweite von Stötzels Geburtsstätte als „Gerhard-Stötzel-Platz“ zu benennen. An diesem zentralen Ort fand im Sommer 1990 das erste Grissenbacher Dorffest statt. Zum anderen wurde vorgeschlagen, in dem Bereich, wo einst sein Geburtshaus stand, mit einer Gedenktafel an die wichtigsten Stationen im Leben von Gerhard Stötzel zu erinnern.
Ortsbürgermeisterin Annette Scholl ließ über diese Vorschläge abstimmen und konnte eine überwältigende Zustimmung feststellen. Spontan erklärte Thorsten Görg, der Vorsitzende des örtlichen Heimatvereins, die Bereitschaft des Vereins, sich an der Finanzierung einer Gedenktafel zu beteiligen. Auch Annette Scholl möchte gerne aus ihrem Budget als Ortsbürgermeisterin diese Gedenktafel im Rahmen der „Stehenden Stadtführung“ der Stadt Netphen mitfinanzieren.
Dem Wunsch der Bürgerinnen und Bürger in Grissenbach, den auch Bürgermeister Paul Wagener in der Versammlung gerne zustimmend angenommen hat, wird nun in der Verwaltung der Stadt Netphen nachgegangen.
Das Leben von Gerhard Stötzel
Gerhard Stötzel, geboren am 4. Dezember 1835 in Grissenbach und gestorben am 1. Juni 1905 in Berlin-Charlottenburg, war der erste Sohn des Landwirts und späteren Fabrikarbeiters Tillmann Stötzel und seiner Ehefrau Maria Elisabeth. Die kleine Familie lebte im Haus des Bruders von Maria Elisabeth, Andreas Müller, einem gelernten Schmied.
Kuriose Namensgleichung
Die Frage, wo das Geburtshaus von Gerhard Stötzel gestanden hat, konnte erst jetzt geklärt werden. Hanne Kuhn aus Deuz fand im Rahmen ihrer Nachforschungen für ihr geplantes „Grissenbacher Häuserbuch“ heraus, dass ein gewisser Andreas Müller bei zwei nebeneinanderliegenden Hausgrundstücken in der Urkatasterkarte aus dem Jahr 1837 als Eigentümer genannt wird. Es handelte sich jedoch überraschend um eine Namensgleichheit und die Herren waren nicht verwandt. An der Stelle des Geburtshauses von Gerhard Stötzel wurde Anfang des 20. Jahrhunderts ein Ziegelhaus errichtet.
Bemerkenswerter Werdegang
Gerhard Stötzel hatte noch vier jüngere, ebenfalls in Grissenbach geborene Geschwister. Nach der Volksschule absolvierte er eine Lehre als Metalldreher und zog spätestens 1861 mit seinen Eltern und Geschwistern nach Essen. Hier war er bei den Kruppwerken beschäftigt.
Gerhard Stötzel heiratete am 2. Juni 1867 in Essen Gertrud Adelheid Schüttelhöfer. Nach dem frühen Tod von Anna im Alter von 32 Jahren wurden die vier Kinder von ihrer ledigen Tante Maria Elisabeth großgezogen.
Gerhard Stötzel hatte als Unteroffizier am Frankreich-Feldzug 1870/71 teilgenommen und dabei seine französischen Sprachkenntnisse erweitert. Der Autodidakt Stötzel wurde anschließend Redakteur des christlich-sozialen Blattes „Rheinisch-Westfälischer Volksfreund“. In dieser Funktion musste er sich immer wieder gegen Beleidigungsklagen zur Wehr setzen. Verschiedentlich war er auch in den Kulturkampf verstrickt, sodass er wiederholt für sein mutiges Eintreten gegen Ungerechtigkeiten mit Geld- und Gefängnisstrafen belegt wurde.
Wahlkampf gegen seinen früheren Arbeitgeber
Als Kandidat der christlich-sozialen Arbeitervereine und der Handwerkerschaft gewann Stötzel in der Stichwahl mit Unterstützung der Sozialdemokraten (Motto: „Stötzel muß durch“) 1877 gegen den offiziellen Kandidaten des Zentrums Christoph Ernst Friedrich von Forcade de Biaix die Wahl zum Reichstag im 5. Wahlkreis des Regierungsbezirks Düsseldorf.
Wenige Tage vor der Reichstagswahl vom 30. Juli 1878 war Stötzel in Haft genommen worden. Die Krupp'schen Arbeiter wurden vor und bei der Wahl massiv unter Druck gesetzt, ihren Arbeitgeber zu wählen. So wurden sie geschlossen zu den entsprechenden Wahlveranstaltungen geführt und erhielten farblich und inhaltlich präparierte Wahlzettel, um möglichst überwachen zu können, dass sie ihr Kreuz an die richtige Stelle setzten. Trotz allen Widrigkeiten siegte Stötzel in Essen mit einem Stimmenvorsprung von 600 Stimmen über seinen früheren Arbeitgeber Alfred Krupp.
Stötzel vertrat in acht Wahlperioden die Interessen der christlich-sozialen Arbeiterschaft gegen prominente nationalliberale Gegenkandidaten. Die Reichstagsabgeordneten erhielten damals noch keine Diäten, so dass Stötzel für seinen Lebensunterhalt auf sein Einkommen als Redakteur angewiesen war.
Erfolge
Stötzel war im Reichstag Mitunterzeichner des Gesetzentwurfes über die Sonntagsruhe und gegen Sonntagsarbeit. Als Mitglied verschiedener Reichstagskommissionen engagierte er sich unter anderem für eine Novellierung der Gewerbeordnung, einen Unfallversicherungsgesetzesentwurf, für die Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit und die Einführung einer Invaliden-, Witwen- und Hinterbliebenenversorgung.
Von 1885 bis zu seinem Tod war er für den Wahlkreis Koblenz-St. Goar auch Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses in Berlin, wo er vehement Bismarcks Kulturkampfgesetze bekämpfte.
Zu seiner Beisetzung am 5. Juni 1905 erschienen Abordnungen von fast hundert Vereinen mit ihren Vereinsfahnen und zahlreiche Vertreter der Stadt Essen, der Zentrumsfraktionen des Reichstags und des preußischen Abgeordnetenhauses. Seit 1979 trägt die Gerhard-Stötzel-Straße in Essen-Huttrop seinen Namen.
Text und Bilder von Wilfried Lerchstein