Jäger und Wild zugleich sein
Crauss las beim Kulturforum Netphen Liebesgedichte aus Lyrikschachtel BUNTE SOCKEN TRAGEN
Seine eruptive Stimmgewalt riss die Aufmerksamkeit mitten ins Seelenleben. In synästhetischen Episoden blitzten die Worte wie Fackelträger in alltagsgrauer Monotonie auf, reihten sich Wahrheitsentzündend schneller aneinander, als der Intellekt sie zu greifen, zu zensieren, zu zerreden vermochte. Crauss' Poeme sind so robust und unzerstörbar wie die Erinnerungen, die den Dichter an seine Jugendliebe knüpfen, die Liebe zu einem Jungen, dessen „bunte Socken“ diese Liebe für ewig symbolisieren.
Es ist die Stärke des kompromisslos Liebenden, die jene „gesprochenen Lieder“ seiner neu aufgelegten „Lyrikschachtel“ (Berlin 2016) beschworen und deren Höchstmaß an Authentizität das Publikum erschauern ließen: „jäger sein wie wild. fänger sein und bauer zugleich/heißt: bekennen statt erkannt sein. stark.“ Nur durch diese Stärke vermag der verliebte Dichter die Herbstmelancholie zu überleben!
Schwelgend in gnadenloser Wahrheitsliebe präsentierte sich Crauss als eine Art Urgewalt, wenn auch in zarterem Gewande seiner Poeme aus den letzten Jahren, wie z.B. aus „Die Schönheit des Wassers“ (Berlin 2013, mit 66 Calligraphien) und „Lakritzvergiftung“ (Berlin 2011). Crauss präsentierte sich wandlungsfähig, spielte lustvoll mit den Begriffen und den Sprachen. Seine melancholische Stimmung zog magisch in die Tiefe des besungenen Wassers hinunter: „Ein schillernder Spiegel. Wir sehen uns selbst, nicht aber ins Wasser.“
Beobachtete Wahrheiten in unglaublicher Komprimiertheit aneinandergereiht, wie in „Lakritzvergiftung“, ließen das gebannt lauschende Publikum fast gierig auf das nächste Poem warten - es fühlte sich inspiriert, wollte Erkenntnisse festhalten wie: SPRECHEN HALLT IM RAUM/nur Blicke lehnen/rücklings an der nackten Wand. “Es gab auch märchenhaft Verfremdetes, wie „Lakritzvergiftung, weil zu viel an zuhause gedacht/Lakritzvergiftung, mit 180tausend umdrehungen hinter mir selbst her/ein glimmender tunnel aus autobahnabend/lakritzvergiftung wegen unglaublicher regenbögen über siegen. gelogen: es ging mir nur übel, es war auch woanders/Lakritzvergiftung, oder du stirbst wegen plötzlich aufflatschender blässhühner tode. aus angst, allein nachts durch den hof zu laufen.“
Der Ruf, der Crauss vorauseilte: „Crausstexte sind Pansmusik. Diesen eigentümlichen Ton treffen in deutschsprachiger Dichtung nur wenige Autoren“ (Matthias Fallenstein), bestätigte das Publikum in der Netphener Buchhandlung Weinaug, deren in Halbdunkel getauchte Bücherkulisse sich zum wiederholten Male als idealer Aufführungsort für Lesungen erwies.
Nach der Lesung wurde noch lange angeregt mit dem Dichter diskutiert.
Ein Bericht von Dr. Ingeborg Längsfeld