Jan Wagner las in der Buchhandlung Weinaug
Der in Berlin lebende Dichter Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, dessen preisgekrönter Lyrikband „Regentonnenvarationen“ in allen 4782 Buchhandlungen der Republik kurz nach seinem Erscheinen letztes Jahr vergriffen war, wie SZ-Redakteur Andreas Goebel recherchiert hatte, wirkte auch in Netphen als Publikumsmagnet!
Das Kulturforum freute sich so in zweifacher Hinsicht: Zum ersten Mal in Netphen genossen Literaturliebhaber das Ambiente von Büchern und Zeitschriften der Buchhandlung Weinaug, als sie den lyrischen Versen Jan Wagners lauschten; und die Veranstalter konnten gesteigertes Interesse ihres Kulturkreises registrieren! Andernorts als agogischer Leckerbissen längst auf der Tagesordnung der Kulturmacher, war diese Art von kultureller Darbietung in der heimischen Region eher risikobehaftet eingeschätzt worden.
Diese Lyrik errang also nicht nur die Gunst der Literaturkritiker der Leipziger Buchmesse, wo sie als Repräsentant dieser Textgattung zum ersten Mal überhaupt preisgekrönt wurde, sondern auch die Herzen der Poesiekonsumenten im Siegerland, was nicht zuletzt in ihrem ländlichen Bezug wurzeln mag: Denn Jan Wagners Sehnsucht nach einer engen Verbundenheit mit der Natur spiegelte die Mehrzahl seiner Vorträge. Als sinnlicher und Sinnenerfüllender Lebensraum seiner Kindheit ebenso wie dem in einer normierten Erwachsenenwelt Lebenden unerreichbares und wildnatürliches Eigenleben: „Ich war das Kind im Brunnen, nur die moose kletterten am geflochtenen strick ihrer selbst nach oben, efeu stieg über efeuschultern ins freie, entkam...gerade, als ich die wörter assel und stein als assel und stein zu begreifen lernte, drang lärm herab, hasten, schreie, und vor mir begann ein seil;ich kehrte zurück, ins läuten der glocken, zurück zu brotgeruch und busfahrplänen...“(„im brunnen“). Wagners vielzitiertes Gedicht über die alles überwuchernde Gartenpflanze „Giersch“ kommt herausragende, symbolische Bedeutung zu als letztlich durch den Menschen nicht bezähmbares Naturleben.
Innerhalb der ihn umgebenden Sinnenwelt ist Wagner fasziniert sowohl von der Existenz der kleinsten Lebewesen als auch der scheinbar belanglosen Nutzgegenstände: „Als hätten sich alle buchstaben auf einmal aus der zeitung gelöst und stünden als schwarm in der luft;stehen als schwarm in der luft, bringen von all den schlechten nachrichten keine, dürftige musen, dürre pegasusse, summten sich selbst nur ins ohr....erscheinen sie fast als schatten, die man aus einer anderen welt in die unsere wirft; sie tanzen, dünner als mit bleistift gezeichnet die glieder; winzige sphinxenleiber; der stein von rosetta, ohne den stein.“(„versuch über mücken“). Dann wieder irritierte er sein Publikum durch die verfremdende Perspektive bisher gewohnter Alltagssituationen, wie z.B. „Beim Friseur“.
Angeregte Diskussionen veränderten nach den Vorträgen auch den Vortragsraum: So wurde die Unsicherheit bekundet, welcher der Wahrnehmungen man sich denn nun anschließen solle, derjenigen gewohnten oder derjenigen verfremdenden, durch welche die gleiche Welt völlig anders erschien als bisher? Die lebhaften, ausführlichen Erläuterungen des besten Lyrikers der Gegenwart komplettierten diese anspruchsvolle, von höchster Sensibilität für Menschen und Dinge getragene Poesie, welche eine Metaphorik zeichnet, durch welche sie innerhalb der deutschen Literatur gleichrangig steht neben Rainer Maria Rilke, Ingeborg Bachmann, Günther Eich, Sarah Kirsch. Wir haben diesen Abend genossen und bei einem Glas Wein im „Stella“ den Dichteraustausch fortgesetzt!
Ingeborg Längsfeld für das Kulturforum Netphen