Kulturforum Netphen präsentiert mit Roman „Editha“ die zweite Neuedition der Werke von Katharina Diez
Der Roman „Editha“ ist beim Vorländer Verlag erhältlich oder kann beim Kulturforum Netphen unter kulturbuero@netphen.de, Tel.: 02738 603 111 bestellt werden.
„Es liegt ein eigenthümlicher Reiz in dem Gefühl, womit wir zum erstenmal in einer fremden Stadt umherwandern, die für längere Zeit unser Aufenthalt werden soll. Die Straßen kommen uns vor wie die schon halb erhellten Coulissen eines Theaters, in welche wir erwartungsvoll auf das bald beginnende Spiel hineinblicken....“
Es sind die Empfindungen des Musikdirektors Julius und dessen künstlerische Wahrnehmung der Welt, welche den Liebesroman „Editha“ einleiten, direkt hineinführen in die romantische Erlebniswelt des 19. Jahrhunderts: Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, Fremdartigen in der äußeren Welt verbindet sich mit ausschweifender Beschreibung des eigenen Innenlebens. Nichts war dem romantischen Zeitgeist weniger erträglich als die sogenannte „Normalität“ des Alltagslebens.
Dieser geistig-poetischen Strömung innig verhaftet breitet die 1809 in Netphen geborene Dichterin Katharina Diez auf 600 Seiten (zwei Bände) das bewegte Gefühlsleben von drei Hauptpersonen mit all seinen Höhen und Tiefen aus: Der erste Band des 1867 erschienenen Romans kann nach 150-jährigem Dornröschenschlaf in Kürze von allen Netphener Bürgerinnen und Bürgern in die Hand genommen werden: Das ermöglicht eine Neuedition des umfangreichen Werkes, das bisher Teil des Nachlasses der Familie Jenner war, der in Osterholz-Scharmbeck bei Bremen lebenden Nachfahren der Schwestern Diez. Die Familienangehörigen freuen sich ebenso wie die Herausgeber der Neuedition, das Kulturforum Netphen, über den zweiten gehobenen Schatz nach der Weltpremiere des „Mooselfchen“, einer Märchenoper nach der Vorlage des Diez-Märchens „Moosprinzessin“ im September 2019 auf der Wasserburg Hainchen.
Der Vorländer-Verlag hat sich auf Anregung von Diez-Forscherin und Kulturforumsvorsitzenden Dr. Ingeborg Längsfeld zum dritten Mal des Werkes der heimischen Dichterin angenommen. Wie schon für den Märchenband „In einem großen dunklen Wald“ (Siegen 2015) hat Designerin Kathrin Klotzki-Progri auch für den ersten Band “Editha“ (der zweite folgt im Sommer 2021) den Künstlerpinsel geschwungen und die Atmosphäre des romantischen Erzählsujets auf dem Umschlag anschaulich in Farbe gebannt.
Ein Liebesroman aus dem 19. Jahrhundert für uns heute? Wir werden Zeugen der Tatsache, dass die Gefühlswelt der Menschen, speziell wenn es um Liebe und Enttäuschung geht, sich im Laufe der Jahrhunderte nicht grundlegend geändert hat. Überraschend zeitlos entfaltet sich vor unserem inneren Auge der Konflikt zwischen einer außergewöhnlichen Klavierspielerin und ihrem Liebsten, dem bereits erwähnten Musikdirektor, der jedoch im Verlauf der Romanhandlung ihre lebenslustige Schwester verehrt: Dem Künstlerinnenideal wird das Ideal des „glücklichen Lebens“ gegenübergestellt: „Wenn man glücklich ist, dann schreibt man nicht, dann lebt man“ äußert sich Editha im Roman. Sie und ihre Schwester Hedwiga verkörpern die bis in unser Jahrhundert reichenden, widersprüchlichen Glücksbegriffe der „alten“ und der „neuen“ Zeit, insbesondere bezogen auf ihre geschlechterspezifischen Bedeutungen: Begriffe von Tugend und Glück weichen den Erkenntnissen tieferer Zusammenhänge. So geraten die Lebensauffassungen der Schwestern in Konflikte. Die komplizierten Beziehungen zwischen Denken, Fühlen und Wollen werden anstelle einfacher Lebensschemata thematisiert, weshalb der „Düsseldorfer Anzeiger“ 1874 der in Netphen geborenen Dichterin das Prädikat „Historiographin des Gefühlslebens“ verlieh!
Das Leben in Gestalt der eigenen Schwester widerspricht dem Idealismus künstlerischen Schaffens: „...wie oft der Künstler seine schönen Gedanken und Vorstellungen in Gestalten legen muss, die selber keine haben, die nur schönen, leeren Gefäßen gleichen, in welche die Kunst ihren Labetrank gießt, sodass sie ohne Wissen und Verdienst die Güte des großen Schöpfers, womit er sie so schön und edel gebildet, wirksam und für andere zum Segen machen.“ Doch Edithas „warme, glühende Künstlerseele war in eine entstellte Hülle gebannt“, und es ist ihr Schicksal, das die Autorin zweifeln lässt an der „vielgerühmten Güte des Schöpfers“. Jedoch ihre künstlerischen Fähigkeiten, ihr „denkender Geist, ein seltnes Talent und eine gefühlvolle Seele“ sind ihr „zum Ersatz für das flüchtige Gut der Schönheit“ gegeben. Über den vorprogrammierten, seelischen Konflikt Edithas durch die Heimkehr der jüngeren, schöneren Schwester hinaus ist ein zweites Thema eingeflochten: Die Anziehung zwischen den Geschlechtern: Leben, Liebe, Kunst - der Dichterin durch Religion und Poesie bisher geheiligte, dadurch über das „bloß Irdische“ erhabene Triade - zeigt im Bannkreis von Erwartungen, Wünschen und Enttäuschungen ihr Janusköpfiges Wesen.
Zu den stillen, poetischen Dichterinnen ihrer Zeit gehörend verleiht Katharina Diez mit tiefer Innigkeit der Handlung dieses Werkes, das als „vortrefflich, gedankenreich, und zart“ beschrieben wurde, einen eigenen Zauber!